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Im Wandel der Zeit: Die japanische Sicht auf Leben und Tod

JAPANDIGEST
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Der Begriff shūkatsu 終活 ist eine Abkürzung für „Aktivitäten am Ende des Lebens“ und meint sämtliche Vorkehrungen, die auf den eigenen Tod vorbereiten. Die japanische Sicht auf Leben und Tod ist im steten Wandel begriffen.

Roboter Pepper bei einer Bestattung
© NurPhoto/SIPA USA/PA Images

Jedes Jahr im Sommer wird im Tōkyōter Kongresszentrum Tokyo Big Sight eine Industriemesse rund um Trauerfeiern, Beerdigungen und die buddhistische Totenandacht abgehalten. Mit der Überalterung der japanischen Gesellschaft steigt auch die Zahl der Verstorbenen Jahr für Jahr, 2003 waren es mehr als 1 Millionen Menschen. Bis 2020 soll die Zahl auf 1,43 Millionen Personen steigen – ein Grund, weshalb die Bestattungsindustrie stetig wächst.

Bestatter in Japan: Eine bedeutungsvolle Aufgabe

Im Rahmen der Messe findet auch ein Einsargungswettbewerb statt, der den besten Bestatter Japans kürt. Die Arbeit des Bestatters beschäftigt sich mit allen notwendigen Vorbereitungen vor der Beerdigung einer Person. Trotz regionaler Unterschiede geht es darum, den Angehörigen und Verstorbenen einen gebührenden Abschied zu ermöglichen.

Im Detail gehören zur Arbeit des Bestatters die Reinigung des Leichnams, das Auftragen von Make-up, um einen möglichst friedlichen Gesichtsausdruck zu erzeugen, sowie das Bekleiden mit weißen Roben bei buddhistischen und shintōistischen Zeremonien. Der Wettbewerb ermöglicht einen Einblick in das Handwerk hinter der Waschung und dem Kleiderwechsel vor der Bestattung, demonstriert die Schönheit des Körpers und bietet Besuchern die Möglichkeit, ihr Verständnis für die Einsargung zu vertiefen.

In dem Film Okuribito („Verabschieder“) wurden die japanischen Bestatter thematisiert und erlangten nach der Auszeichnung des Films mit dem Oscar für den besten fremdsprachigen Film 2009 weltweit Berühmtheit. Zwar benötigen Bestatter in Japan keine nationale Berechtigung für die Ausübung ihrer Tätigkeit, aber an Fachschulen kann diese erlernt werden. Dort erfahren die Schüler, wie sich der Körper nach dem Tod verändert und welche Infektionsrisiken bestehen. Zudem erlernen sie das Wechseln der Kleidung und das Schminken des Leichnams.

Szene aus dem Film Okuribito
Okuribito (2008, Takita Yōjirō). Nach der Auflösung seines Orchesters, gibt Daigo seinen Traum des Cellospielens auf und kehrt in seine Heimat in Yamagata zurück. Dort erwarten ihn jede Menge ansehnliche Jobangebote. Nach einem Jobinterview bietet ein Geschäftsleiter sofort die besagte Stelle an: als Bestatter. Seine ursprüngliche Ratlosigkeit ablegend, lernt Daigo mit den verschiedenen Erfahrungen, die er erlebt, stolz auf seine Arbeit als Bestatter zu sein. © Kool Filmdistribution

Früher wurde die läuternde Reinigung des Leichnams von den Hinterbliebenen vollzogen. Heutzutage jedoch, da mehr und mehr Menschen in Krankenhäusern ihre letzten Minuten verleben, gibt es die Tendenz, die Reinigung den Bestattungsunternehmen zu überlassen. Den Beruf des Bestatters (auf Japanisch nōkan 納棺) gibt es seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Auch wenn es die Aufgabe des Bestatters ist, die Hinterbliebenen bei der Vorbereitung des Abschieds zu unterstützen, so bleibt der Prozess an sich bis heute ein sehr wichtiger für Japaner.

Die Edo-zeitliche Akzeptanz der Vergänglichkeit

Wenn man die japanische Sicht auf Leben und Tod in der Geschichte zurückverfolgt, so stößt man auf die Edo-zeitliche Befürwortung der Samurai, ohne Zögern zu sterben. Denn die Ehre, die nach dem Tod in der Welt zurückbleibt, ist nicht an das irdische Leben gebunden.

Zur Edo-Zeit dienten die Samurai ihren Herrn nach einem strikten Verhaltenskodex, dem Bushidō: Pflicht (der richtige Weg der Menschen), Tapferkeit (der Mut, die Pflicht zu erfüllen), Edelmut (Mitgefühl und Güte), Höflichkeit (Bescheidenheit und Respekt der Gefühle anderer), Aufrichtigkeit (Wort zu halten), Ehre und Loyalität bis zum Tod.

Es wird oft gesagt, die Kirschblüte hat eine kurze Blütezeit und wird schnell vom Winde verweht, daher ähnelt sie den Samurai. Wunderschön zu Lebzeiten, zögert der Samurai im Angesicht des Todes nicht, wie die Kirschblüte zu fallen, wenn seine Zeit gekommen ist. Mit dem Ende des Tokugawa-Shōgunats und dem Eintritt in die Moderne verschwanden die Samurai und Bushidō gehört der Vergangenheit an. Doch mit dem Anblick der kurzlebigen Kirschblüte besteht auch der Geist von Bushidō weiter.

Leben und Tod in der heutigen Zeit

Zur Zeit des Tōhoku-Erdbebens 2011 wurde Japan weltweit in den Medien für den ruhigen Umgang im Angesicht der Katastrophe gepriesen. Dabei hängt der japanische Blick auf Leben und Tod sehr stark mit den geografischen Eigenschaften des Landes zusammen.

Der japanische Physiker und Essayist Terada Torahiko (1878-1935) beschrieb in seinem Essay „Die japanische Sicht der Natur“ (1935) das Ausmaß der Gefahr durch Naturkatastrophen wie Erdbeben, Tsunamis und Taifune auf die japanischen Inseln, das viel größer als in Westeuropa sei. Durch die Erfahrung solcher Katastrophen lerne man, die Lehren der Natur hinzunehmen. Im Vergleich zu Westeuropa sei die Natur in Japan wesentlich instabiler und lege des Öfteren einen ungestümen Charakter an den Tag.

Diese Erfahrungen wieder und wieder zu durchleben zeugte letztlich die Erkenntnis der Vergänglichkeit des Lebens und der Wandelbarkeit der Dinge. Aus der Einstellung, dass es sinnlos ist, sich starr an Dinge oder Ereignisse zu klammern, ist schließlich der einzigartige Aspekt der japanischen Mentalität der Ergebung und der Vergänglichkeit entsprungen. So wurde dem irrsinnigen Tod, der dem unerwarteten Erdbeben folgte, mit Fassung begegenet.

Auch wenn in Japan heutzutage ein anderes Verständnis für Leben und Tod herrscht, so hängt dieses immer von Faktoren wie Familientradition und Religion ab. Mit der Modernisierung Japans kristallisierte sich auch ein Tabu um das Thema Tod heraus. Doch dieser Gedanke scheint in letzter Zeit im Wandel begriffen und japanische Medien greifen das Thema Sterben aktiv auf.

Das 21. Jahrhundert hat den Begriff shūkatsu geprägt. Shūkatsu bedeutet, dem Sterben entgegen die nötigen Vorkehrungen zu treffen, um bis zur letzten Minute selbstbestimmt leben zu können. Dazu gehört auch, die Angehörigen während und nach dem eigenen Ableben so wenig wie möglich zu belasten. Vor dem Hintergrund der sinkenden Geburtenrate und der Überalterung der Gesellschaft trägt jede Person eine große persönliche Verantwortung. Deshalb ist es notwendig, Angelegenheiten wie die Pflege im Alter, das Erbe und die Grabsteinpflege schon rechtzeitig zu organisieren. Auf diese Art und Weise werden auch die Bestattung und die Totenandacht schon zu Lebzeiten arrangiert.

Vorführung einer Reinigung des Leichnams in Tokyo
Eine Vorführung der Reinigung des Leichnams bei der Tokyo Int‘l Funeral & Cemetery Show in Tōkyō. © NurPhoto/SIPA USA/PA Images

Dieser Text wurde von Mai Schmidt für die April-Ausgabe des JAPANDIGEST verfasst und von Sina Arauner aus dem Japanischen übersetzt und für die Veröffentlichung im Printmagazin und auf der Webseite nachbearbeitet. Eine Übersicht über weitere Artikel finden Sie hier:

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