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Auf den Barrikaden: Der Kampf um den internationalen Flughafen von Tōkyō

Christiane Süßel
Christiane Süßel

Auch im nach Harmonie strebenden Japan können politische Auseinandersetzung extreme Formen annehmen. Von seiner Planung bis zur Inbetriebnahme ist der internationale Flughafen von Tōkyō in Narita zum Sinnbild für Bürgerbewegungen geworden, die selbst einen blutigen bewaffneten Kampf nicht scheuen.

Ansicht auf den Flughafen Narita
Terminal 1 des Flughafens in Narita wurde bereits 1978 in Betrieb genommen. Heute hat der Airport drei Terminals. / Wikimedia Commons CC4.0 International, Nanashinodensyaku

Bei gutem Wetter hat man bisweilen beim Anflug auf den internationalen Flughafen in Narita eine gute Sicht auf die Megapolis und mit einigem Glück auch auf den Berg Fuji. Ist das Flugzeug auf dem zweitgrößten Airport des Archipels gelandet, wartet eine recht lange Fahrt in die City auf den Fluggast, denn der Flughafen liegt in der Gemarkung Narita der Präfektur Chiba und damit 60 km nordöstlich der Hauptstadt. Mit jährlich über 40 Millionen Passagieren ist er nach Haneda mit 85 Millionen Fluggästen in 2017 die Nummer zwei in Japan. Während Haneda seit je her bei den Inlandsflügen die Nase vorn hat, flogen bislang die meisten internationalen Carrier Narita an. Haneda holt nach seiner Erweiterung in 2010 und 2014 auch bei Interkontinentalflügen auf. Dennoch wickelt Narita bislang die Hälfte aller Langstreckenflüge ab und ist weiter das internationale Drehkreuz Japans. Der Flughafen hat inzwischen drei Terminals, seit 2015 eines für Billigflieger. Heute funktioniert Naritas Flughafen nahezu reibungslos, doch seine Geschichte ist es keineswegs.

Auch in Japan kommen, ähnlich wie in Europa, in den 1960er und 70er Jahren Proteste gegen Umweltverschmutzung durch die fortschreitende Industrialisierung auf. Anwohner und besorgte Bürger engagieren sich aus Sorge um ihre Lebensgrundlage. Während sich in Deutschland Widerstand gegen das Atomendmülllager in Gorleben oder gegen den Bau der Startbahn West am Frankfurter Flughafen formiert, treibt in Japan das Großprojekt des Neubaus eines Flughafens in Narita die Menschen auf die Straße. Die Wirtschaft wächst in den 1960er Jahren rapide. Flugverbindungen werden zu einem Argument für die Internationalisierung der Wirtschaft. Als der Hauptstadtflughafen in Haneda Ende der 1950er Jahre an seine Wachstumsgrenzen stößt, evaluiert man geeignete Flächen in der Umgebung der schnell expandierenden Metropole. Ziel ist es, alle internationalen Flüge auf den neuen Flughafen zu verlegen.

Die Behörden evaluieren 1963 mehrere Standorte. Ihre Wahl fällt zunächst auf die Gemeinde Tomisato in der Präfektur Chiba. Als sich hier umgehend Protest formiert, schwenken die Planer 1966 auf die zehn Kilometer entfernt liegende Gemarkung Sanrizuka um. Für Sanrizuka sprechen der Luftraum, Wetterbedingungen und Bodenqualität. Zudem umfasst das Gebiet kaiserliche Weiden, die sich in Staatsbesitz befinden. Das macht die Zahl der umzusiedelnden Anwohner überschaubar: Rund 250 Haushalte sind betroffen, darunter 180 Bauern. Viele dieser Bauern hatten sich erst nach dem Zweiten Weltkrieg hier angesiedelt, und sind daher nicht so fest mit ihrem Land verwurzelt wie andernorts. Im Zuge des Schwenks auf Sanrizuka wird die Planungsgröße von einst 2.300 Hektar auf 1.065 Hektar zusammengestrichen. Der 1967 beschlossene Baudurchführungsplan sieht zwei Phasen vor: In einem ersten Schritt soll die Start- und Landebahn A und im zweiten Schritt die Start- und Landebahnen B und C gebaut werden. Geplant ist es, den ersten Bauabschnitt bis 1970 und den zweiten bis 1973 zu beenden. Doch diese Planungen sind ohne die Menschen vor Ort gemacht.

Schon kurz nach dem Zuschlag für Sanrizuka demonstrieren im Sommer 1966 rund 3.000 Anwohner gegen die Pläne und auch das Stadtparlament von Narita fasst zunächst einen Beschluss gegen den Bau, zieht diesen aber auf Druck von oben alsbald wieder zurück. Dennoch bildet sich Widerstand, der sich zunächst legaler Mittel bedient: Versammlungen, Petitionen und Klagen sowie Demos und Sternenmärsche. Schnell findet sich ein Aktionsbündnis gegen den Flughafen zusammen: „Sanrikuza-Shibayama-Vereinigung gegen den Flughafen (Sanrizuka-Shibayama Rengo Kūkō Hantai Dōmei 三里塚・芝山連合空港反対同盟). Tomura Issaku, ein ortsansässiger Bauer, wird zum Vorsitzenden bestimmt. Die Vereinigung hält bis 1983.

Um die Enteignungen zu erschweren, bedienen sich die Grundbesitzer zivilen Ungehorsams und verkaufen ihr Land in kleinen Einheiten des alten Maßes Tsubo an Sympathisanten. Dennoch gelingt es der neu gegründeten Flughafengesellschaft, bis 1969 rund 90% des Landes aufzukaufen. Die Vermessungsarbeiten auf den kaiserlichen Weiden beginnen 1967, allerdings unter Sabotageakten der Anwohner: Sie besetzen das Land. Vor dem Hintergrund drohender Zwangsenteignungen schreiben sich die Demonstranten bald die Parole „nōchi shishu“ (農地死守, das Agrarland bis zum Tode verteidigen) auf ihre Banner. Die Stimmung ist 1968 extrem aufgeheizt. Die Vereinigung der Alten überlegt sogar, die Räumung der Weiden mit einem rituellen Massenselbstmord zu verhindern. Letztendlich lassen sie dieses Vorhaben zwar fallen, sind aber zu allem entschlossen und ketten sich an die Kirschbäume auf dem kaiserlichen Land. Sieben Personen werden bei diesen Aktionen festgenommen, was weiteres Öl ins Feuer gießt: Die Anwohner und Bauern bewaffnen sich mit Helmen, Schilden und Stangen, es fliegen Steine und Beutel mit Exkrementen. Die Polizei antwortet mit Wasserwerfern und Netzen, die die Wurfgeschosse abfangen. Die Bewegung begreift sich als Kampftruppe und agiert nun unter dem Banner Sanrizuka Tōsō (三里塚闘争, Sanrizuka-Kampf).

Helme und bewaffnunf von Protestlern gegen den Bau vom narita Flughafen in einem Museum
Die Protestler gegen den Flughafenbau bewaffneten sich nicht nur mit Helmen sondern auch mit Stöcken und Wurfgeschossen. Die Geschichte des Kampfs wird heute in einem Museum in Shibayama (成田空港 空と大地の歴史館) erzählt. CC4.0 International, 7GIT

Trotz der Tumulte beginnen im September 1969 die Bauarbeiten an der Start- und Landebahn A. Zeitgleich zimmern die Flughafengegner erste Hütten und Festungen. Ein wichtiger Schachzug: Tomura nimmt Kontakt zum Studentenbund auf, der bereits gegen die US-Militärbasis in Sunagawa in Tōkyō protestiert hat. Dieses neue Bündnis lädt den Widerstand politisch auf. Die Studenten propagieren, der Flughafen in Narita könne auch vom US-Militär genutzt werden und müsse daher als Sinnbild für den US-Imperialismus bekämpft werden. Den Vietkong als Vorbild beginnen die militanten Studenten mit dem Bau von Verteidigungsgräben. Im Herbst 1970 eskaliert die Situation bei den Zwangsvermessungen zum sogenannten Dreitage-Krieg zwischen Besetzern und Polizei: Es gibt zahlreiche Verletzte und Festnahmen. Im September 1971 kesseln die Protestler Sondereinsatztruppen der Polizei an einer Kreuzung ein. Drei Polizisten erliegen ihren lebensgefährlichen Verletzungen. Es gibt 150 Verletzte. 475 Demonstranten werden festgenommen. Im Oktober 1973 schwappt der Protest in die Hauptstadt über. 100.000 Menschen protestieren in Tōkyō gegen den Bau in Narita.

Der Kampf findet nicht nur auf dem Flughafenareal statt. 1967 erheben die Protestler eine Verwaltungsklage gegen den Baudurchführungsplan, in der sie den öffentlichen Nutzen des Flughafens anzweifeln, und die Enteignungen als unrechtmäßig beklagen. Auf der anderen Seite werden von 1968 bis 1979 in 41 Strafprozessen mehr als 600 Menschen angeklagt. Die Vorwürfe lauten auf Störung von Amtshandlungen, illegalen Waffenbesitz, Widerstand gegen die Staatsgewalt und Körperverletzung, aber auch Brandstiftung und Körperverletzung.

Eine problematische Rolle spielt auch die neu gegründete Flughafenbetreibergesellschaft NAA, Narita Airport Authority, heute Narita International Airport Corporation (成田国際空株式会社). Bei ihr arbeiteten viele ehemalige Beamte, was Vorwürfe entfachte, dieses Amakudari (天下り), also der Wechsel ehemaliger Beamte in Privatunternehmen, befördere die Korruption.

Fahrzeuge auf Start-/Landebahhn des Flughafen Narita
Mit Hütten und Türmen blockierten die Gegner des Flughafens den Bau der Start- und Landebahn. Public domain, Abasaa

Unter hohen Sicherheitsvorkehrungen kommen unterdessen die Bauarbeiten voran. Das erste Terminal wird 1972 fertiggestellt. Der Bau der Startbahn gestaltet sich aufgrund der Proteste und Landbesetzungen schwieriger. Mit der Unterstützung des Anti-Flughafenbündnisses durch radikale Studentengruppen werden aus Solidaritätshütten Festungen mit Gräbensystemen. Es entfesselt sich ein Guerillakampf. Stahltürme der Flughafengegner behindern die Bauarbeiten an der Start- und Landebahn. Als ein Turm 1977 von den Einsatzkräften niedergerissen wird, sterben ein Demonstrant und ein Polizist. Die für den 30. März 1978 geplante Eröffnung des Flughafens wird von den Protestlern sabotiert. Vier Tage vor dem geplanten Termin bricht eine Gruppe in den Tower ein und zerstört einen Großteil der Apparate. Die Schäden belaufen sich auf 500.000 US-Dollar. Der Flughafen wird schließlich am 20. Mai 1978 eröffnet. 14.000 Sicherheitskräften stehen 6.000 Demonstranten gegenüber. Dabei ist der Bau eher ein Provisorium als ein funktionsfähiges Luftdrehkreuz: Es fehlt eine Kerosinpipeline, die Sicherheitsvorkehrungen sind mangelhaft und der Lärmschutz ein Flickenteppich. Hinzu kommt, dass die Landebahn für gewisse Flugzeugtypen zu kurz ist und es keine Shinkanzen-Anbindung gibt. Die Sicherheitslage ist auch in den Folgejahren angespannt. Bis 2015 müssen sich Besucher im Flughafen ausweisen. Polizisten patrouillieren.

Im November 1986 geht der Flughafenbetreiber mit einem neuen Terminal und einer nördlichen Startbahn die zweite Bauphase an. Zu dieser Zeit gibt es immer noch Familien, denen Land gehört, das zur Erweiterung des Flughafens nötig ist. Aus Furcht vor Tumulten, sieht die Regierung von Zwangsenteignungen ab. 1987 kommt es im Großraum Tōkyō zu mehreren gleichzeitigen Bombenanschlägen auf Firmen, die an der Flughafenerweiterung beteiligt sind. Verantwortlich hierfür zeichnet eine linksradikale, marxistische Gruppierung (chūkakuha 中核派). Als das zweite Terminal 1992 eröffnet wird, hat es Baukosten von 1,36 Mrd US-Dollar verschlungen. Es folgt 2002 die erste Verlängerung der Startbahn B und 2009 ihr nördlicher Ausbau. Seit 2014 wird eine dritte Verlängerung sondiert. Ihrer Realisierung stehen Landrechte von 15 Protestlern entgegen. 2015 kann dennoch das neue Terminal 3 in Betrieb genommen werden, an dem hauptsächlich Billigflieger abgefertigt werden. Im Zuge der Privatisierung der Flughafengesellschaft wird der New Tokyo International Airport in Narita International Airport umbenannt. Auch die Ausbaupläne laufen weiter. 2018 wurden Pläne bekannt, dass der Flughafen eine dritte Startbahn bekommen soll. Bis 2028 soll sie in Betrieb gehen. Ob bis dahin auch die verbliebenen Protestler zur Aufgabe ihres Landes bereit sind, wird sich erweisen.

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