Tempelinitiative Otera Oyatsu Club gegen Kinderarmut | Interview

von Kei Okishima
Bei einem Tempelbesuch gelten Süßigkeiten und Früchte als Opfergaben für Buddha und die Ahnen.

Die Tempelinitiative Otera Oyatsu Club hat sich dem Kampf gegen das Problem der Kinderarmut in Japan verschrieben. JAPANDIGEST im Interview mit Noda Yoshiki aus der Verwaltung der Clubs.

Laut einer Umfrage zur Lebensgrundlage der Bevölkerung durch das Ministerium für Gesundheit, Arbeit und Soziales von 2016 lebt in Japan jedes siebte Kind in Armut. 2014 rief der An’yōji-Tempel (Präfektur Nara) den Otera Oyatsu Club (oyatsu bedeutet „Snack“ auf Japanisch) ins Leben. Dieser verteilt im Tempel gesammelte Lebensmittel an Kinder. Seit 2017 werden die Aktivitäten im Rahmen einer NPO fortgeführt. Wir haben mit Herrn Noda Yoshiki aus der Verwaltung des Clubs über dessen Bemühungen gesprochen.

Der An’yōji-Tempel in Nara wurde 1633 errichtet. Hauptpriester Matsushima Yasurō rief dort 2014 die Verwaltung des Otera Oyatsu Clubs ins Leben.

Was ist der Otera Oyatsu Club?

Der Otera Oyatsu Club ist eine gemeinnützige Organisation, die sich in Kooperation mit Tempeln, Selbsthilfegruppen und der Bevölkerung landesweit der Bekämpfung von Armut verschrieben hat. International hat Japan den Ruf, ein wohlhabendes Land zu sein, aber tatsächlich gibt es auch hier Menschen, die an finanziellen Nöten und der damit einhergehenden Hilflosigkeit leiden. Die Regierung sowie private Organisationen setzen Maßnahmen zur Lösung dieser Probleme um, aber bisher sind diese kaum ausreichend.

Was genau macht der Club?

Die Tempelgemeinden und die lokale Bevölkerung bringen Lebensmittel für Buddha und die Ahnen zu den Tempeln. Diese werden über Hilfsgruppen an Familien in finanzieller Notlage weitergegeben. Stichwörter sind dabei die buddhistischen Begriffe osonae, osagari und osusowake.

Buddhistische Haushalte in Japan haben einen buddhistischen Altar. Jeden Morgen werden Buddha und den Ahnen an diesem Altar kleine Mahlzeiten serviert. Auch wenn man selbst etwas erhält, bringt man es zuerst zum Altar. Diese Opfergabe wird osonae genannt. Sie drückt die Dankbarkeit und den Respekt Buddha und den Ahnen gegenüber aus. Anschließend nimmt die Familie gemeinsam ein Mahl als osagari, ursprünglich Buddha geopferte Speisen und Tränke, ein. Dies nennt man osusowake, das Weitergeben von Dingen oder Vorteilen, die man von anderen Personen erhalten hat.

Beim Tempelbesuch gibt es den ähnlichen Brauch, Buddha und den Ahnen Früchte oder Wagashi (japanische Süßigkeiten) als Opfergabe darzubieten. Der Otera Oyatsu Club erhält von Tempeln geopferte osonae in Form von Lebensmitteln als osagari und gibt diese als osusowake über Selbsthilfegruppen zur Unterstützung von Kindern weiter an finanziell bedürftige Familien. Als Organisation verbinden wir landesweit teilnehmende Tempel mit lokalen Hilfsgruppen und liefern die Süßigkeiten, Früchte, Lebensmittel und alltäglichen Gebrauchsgegenstände aus.

Gegenwärtig (August 2019) arbeiten wir mit 1.278 Tempeln und 451 Organisationen zusammen, von denen jeden Monat rund 10.000 Kinder Essen erhalten.

C Bei einem Tempelbesuch gelten Süßigkeiten und Früchte als Opfergaben für Buddha und die Ahnen.
Mönche lesen heilige Schriften der buddhistischen Lehren und bieten Buddha die geopferten osonae dar.

Was ist der Unterschied zu einer Tafel?

Für den Otera Oyatsu Club ist die Unterstützung aus Herzensgüte, in Form von Lebensmitteln, sehr wichtig. Die osonae selbst werden an den Tempeln zusammengestellt und dabei wird in Betracht gezogen, welche Opfergaben für Buddha oder die Ahnen gut geeignet sind. Das können beispielsweise frisch geerntete Früchte für Buddha sein, oder Lebensmittel für die Ahnen, die sie zu ihren Lebzeiten gerne mochten. So steckt in jeder der Opfergaben das Herz der Spender. Wenn eine Gabe von Herzen kommt, nimmt der Empfänger nicht nur die Gabe selbst, sondern auch die Wärme des Gebenden entgegen und es entsteht eine Beziehung. Oft drücken Eltern, die Lebensmittel erhalten haben, ihre Dankbarkeit aus, dass „jemand über sie wacht.“ Wir haben den Eindruck, dass so die durch die Umstände entstandene Isolierung zumindest ein wenig gemindert wird. „Jemand sieht mich“, „Es gibt Leute, die mir helfen möchten“ und „Es ist in Ordnung nach Hilfe zu fragen“ – diese warmen Gefühle werden mit den gespendeten Dingen vermittelt.

Haben Sie im Laufe der Zeit Ihre Aktivitäten ausgeweitet?

Wir haben herausgefunden, dass viele Japaner nicht wissen, dass Kinderarmut hier ein Problem ist. In den sechs Jahren seit wir begonnen haben, ist die Thematik nach und nach etwas mehr zur Öffentlichkeit durchgedrungen. Dennoch gibt es weiterhin viele Leute, die entweder nichts darüber wissen oder den Ernst der Lage nicht wahrnehmen. Wir möchten, dass der Otera Oyatsu Club wie eine Anzeigentafel funktioniert, von der die Leute mehr zum Thema Kinderarmut lernen können.

Wie reagieren die Tempelbesucher auf den Club?

Anfangs machte ich mir Sorgen, ob Besucher es verstehen würden, dass ihre an den Tempel gespendeten Gaben an andere, ihnen völlig unbekannte Menschen weitergegeben werden. Aber zumindest an meinem Tempel gab es bisher keine negativen Reaktionen. Ganz im Gegenteil: Mit Kommentaren wie „Durch das Weitermachen gewinnen die Aktivitäten an Bedeutung. Ihre Arbeit hat gerade erst begonnen und das unterstütze ich, also machen Sie weiter“ werden wir ermutigt. Außerdem bekommen wir auch Spenden in Form von Wagashi oder gar Geld, um diese zu kaufen. In Japan gibt es viele Leute, die wegen der Kinderarmut besorgt sind und helfen möchten, aber nicht wissen, wie sie das tun können. Aber es gibt auch solche, die Spenden zu ihren örtlichen Tempeln bringen, weil sie von den Hilfsmaßnahmen wissen. Dass sich diese Gefühle entwickelt haben ist
von großem Wert für unsere Aktivitäten. Anfangs bekamen wir viele individuelle Spenden, aber in letzter Zeit bekommen wir auch zunehmend Unterstützung von Unternehmen.

Die Club-Aktivitäten setzen die im Buddhismus gepredigte Barmherzigkeit um. Was genau versteht man darunter?

Das japanische Wort jihi 慈悲 (Barmherzigkeit) wird mit zwei Kanji geschrieben, aus denen sich die Bedeutung ergibt: 慈 heißt grob „Zuneigung verteilen“ und 悲, das allgemein für Traurigkeit steht, meint hier das Entfernen von schmerzhaften Gefühlen. Mit anderen Worten bedeutet Barmherzigkeit, sich das Leid zu Eigen machen, den Schmerz davon zu entfernen und den so gewonnenen Seelenfrieden zu verbreiten.

Über den Buddhismus sagt man, er seieine Religion der Wahrnehmung, in der man die Wahrheit durch den Körper und den Geist erkennt. Es ist nicht so, dass Buddha eine Logik für die Welt erschaffen hat. Es gab die Welt von Anfang an und Buddha erkannte, dass sie eine Welt ist, in der es Leid gibt. Er dachte darüber nach, wie man diesem Leid entkommen und wie man es entfernen könnte.

Es gibt viele Arten des Leids und es ändert sich ganz natürlich je nach den zeitlichen und kulturellen Umständen. Die Armut von Kindern ist eine Form des Leids der heutigen Gesellschaft in Japan. Wenn man jedoch das Leid und den Schmerz der Welt nicht kennt, kann man nichts daran ändern. Solange die Problematik der Kinderarmut unbekannt bleibt, kann man nichts machen, um dieses Leid zu lösen. Das Leid und dessen reale Fakten zu kennen, Lösungsmaßnahmen zu überlegen und diese umzusetzen, so praktiziert man die Barmherzigkeit.

Amida-nyorai gab das Versprechen „niemand wird im Stich gelassen“ und ist ein Symbol der Barmherzigkeit.

Welche Herausforderungen erwarten Sie in der Zukunft?

Zunächst müssen wir die Thematik in Japan weiter bekannt machen und die Anzahl der teilnehmenden Tempel erhöhen. Ich bin mir sicher, dass die aktive Teilnahme von mehr als 70.000 Tempeln landesweit bei der Bekämpfung von Armut einen Unterschied machen wird.


Dieser Artikel wurde für die Oktober-Ausgabe des JAPANDIGEST 2019 von Kei Okishima verfasst und für die Veröffentlichung auf der Website nachbearbeitet.

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