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“Tod durch Überarbeiten”: Neuer Diskurs um Karōshi

Hannah Janz
Hannah Janz

Das Klischee vom Japaner, der wie ein Roboter arbeitet, hält sich seit den 1980ern. Damals diente es dazu, die Japaner, deren Wirtschaftsmacht auf viele im Westen beängstigend wirkte, abzuwerten. Wie jedes Klischee enthält aber auch dieses ein Körnchen Wahrheit.

Rush Hour Tokyo
Rush Hour in Tōkyō - Alleine das ist schon keine angenehme Erfahrung. ©Dick Johnson

Karōshi, der Tod durch Überarbeitung (過労死), ist im Ausland fester Bestandteil des allgemeinen Wissens und Vermutens über Japan. Auch wer den Begriff zum ersten Mal hört, kann ihn mühelos mit dem Bild des müden Großstadt-Angestellten, der täglich vier Stunden pendelt und erst kurz vor Mitternacht seinen Arbeitsplatz wieder verlässt, verbinden. Diese Arbeitssituation betrifft natürlich nicht alle Japaner, ist aber durchaus verbreitet.

In Japan war Karōshi lange eher eine Randnotiz im gesellschaftlichen Bewusstsein. Wer ein vollwertiges Mitglied der Gesellschaft sein wolle, müsse auch viele Überstunden ableisten können, so die allgemeine Auffassung.

Seit 1988 gibt es eine Notrufnummer, die Überarbeiteten Hilfe bietet. Im Jahr 2000 entschied der Oberste Gerichtshof Japans, dass Firmen dafür verantwortlich seien, ihren Mitarbeiter durch Überstunden keine Schäden zuzufügen. Erst in den letzten Jahren, initiiert durch das zunehmende Bewusstsein für Work-Life-Balance und die körperlichen und psychologischen Schädigungen durch zuviel Arbeit, wird das Phänomen als flächendeckend anerkannt und diskutiert.

Staatliche Untersuchung und Gegenmaßnahmen

2014 nahm sich die Abe-Regierung der Thematik an und erließ das Gesetz zur Durchführung von Maßnahmen zur Verhinderung von Todesfällen durch Überarbeitung (Karōshitō bōshi taisaku suishinhō 過労死等防止対策推進法). Am 7. Oktober 2016 veröffentlichte das Ministerium für Gesundheit, Arbeit und Soziales (Kōsei rōdō-shō厚生労働省) dann das erste Weißbuch zum Thema Karōshi.

Dessen Ergebnisse machen deutlich, wie dringend die Maßnahmen umgesetzt werden müssen. Für das Geschäftsjahr 2015 nennt das Weißbuch 93 Selbstmorde und Selbstmordversuche sowie 96 Tote in Folge von Herz- und Hirnerkrankungen. Diese Zahlen beziehen sich auf Fälle, die von der staatlichen Versicherung für Arbeitnehmer im Schadensfall (Rōdōsha saigai hoshō hoken 労働者災害補償保険) als eindeutig durch Überarbeitung verursacht eingestuft wurden.

Gleichzeitig führt das Weißbuch für 2015 weitere 2159 Suizide an, die zumindest teilweise auf Überarbeitung zurückzuführen seien. Diese Zahlen verweisen auf die epidemischen Ausmaße des Phänomens Karōshi in Japan.

Gestiegene mediale Aufmerksamkeit, Widerwillen in Teilen der Wirtschaft

Verstärkt wurde die Signifikanz der Ergebnisse der staatlichen Untersuchung durch die Berichterstattung am selben Tag zum Selbstmord einer 24-jährigen. Die Angestellte der größten japanischen Werbeagentur Dentsū 電通 hatte sich im Dezember 2015 in den Tod gestürzt, nachdem sie in den zwei Monaten zuvor jeweils über 100 Überstunden geleistet hatte. Ende November war sie an einer Depression erkrankt, die laut der Prüfungskommission auf ihre belastende Arbeitssituation zurückzuführen gewesen sei.

Mit dieser offiziellen Feststellung kommen Schadensersatzforderungen auf den Arbeitgeber Dentsū zu. Das Unternehmen stand für seine Mitarbeiterpolitik bereits seit der oben genannten Rechtsprechung des Obersten Japanischen Gerichtshofs im Jahr 2000 in der Kritik, denn auch der verhandelte Selbstmord aus dem Jahr 1991 betraf einen Dentsū-Mitarbeiter.

Dem Weißbuch der Regierung nach sind mehr als 80 Überstunden pro Monat in 23 Prozent der für die Studie befragten 1743 Firmen üblich. Diese Stundenzahl wird unter anderem von der Versicherungskommission als ein Indiz für Überarbeitung im Falle von Karōshi gewertet. Insbesondere Unternehmen im Informations- und Kommunikationssektor sowie in Forschung und Technologie lassen ihre Mitarbeiter übermäßig lange arbeiten. Hier gaben jeweils über 40% der Firmen an, die Mitarbeiter blieben monatlich für 80 oder mehr Überstunden.

Die Regierung unter Premierminister Abe möchte in Zukunft unter anderem die Zahl der Überstunden gesetzlich beschränken. In einigen Teilen der japanischen Wirtschaft stößt dieser Vorstoß auf wenig Gegenliebe, insbesondere in Segmenten, in denen Arbeitskräftemangel herrscht. Ob die staatlichen Maßnahmen ohne gleichzeitige Einführung von Strafzahlungen oder anderer Sanktionen gegen unwillige Unternehmen greifen werden, ist unklar.

Gefragt: Ein neuer Arbeitsethos

Dass sich vor allem die Einstellung zum Arbeiten in Japans Gesellschaft ändern muss, verdeutlichte der Kommentar des Wirtschaftsprofessors Hasegawa Hideo 長谷川秀夫der Musashino-Universität 武蔵野大学 in Tōkyō in einem Nachrichtenportal am 07. Oktober. Zum Weißbuch und zum Fall der verstorbenen Dentsū-Mitarbeiterin hatte er kommentiert, dass Karōshi nach nur hundert Überstunden lächerlich sei (残業100時間で過労死は情けない). Hasegawa entschuldigte sich nach massivem medialen Druck für seine Äußerung.

Im international beeinflussten Teil der japanischen Wirtschaft findet teilweise aber bereits ein Umdenken statt. Um die Arbeitsfähigkeit der Mitarbeiter langfristig zu garantieren, wird dort auf die Einhaltung von Ruhezeiten geachtet. Insbesondere große Firmen in Japan verordnen wöchentlich mittlerweile zumindest einen oder zwei Tage ohne Überstunden (nō zangyō dei ノー残業デイ).

Nicht alle Angestellten freuen sich über zwangsverordnete Tage ohne Überstunden – Lesen Sie HIER den Kolumnen-Artikel zu den „Überstunden-Flüchtlingen“.

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